24.07.2025 Von der Capanna Alzasca zum Rifugio La Reggia im Valle di Campo

Heute morgen steigen wir von der Capanna Alzasca nach dem Frühstück erstmal 300m zur Bocchetta di Cansgei auf. Unterwegs passieren wir den sehr schönen Lago  Alzasca. Nach der Bocchetta windet sich der Weg durch ein grünes Hochtal und stürzt sich dann teils sehr ausgesetzt, steil und vor allem noch sehr feucht vom Starkregen gestern durch Felsplatten, Lärchen-, Buchen- und Tannenwälder runter ins Tal. Ingesamt rund 1250 Höhenmeter kämpfen wir uns hochkonzentriert nach unten, bis wir die Strasse erreichen. Der Morgenbus ist jetzt um ca. 13 Uhr natürlich durch. Ein weiterer kommt um 16.15. Da es später wieder regnen soll, bleibt nur zu trampen. Erst sieht es mau aus. Das siebte vorbeikommende Auto schließlich ist ein Volltreffer; ein junges Pärchen fährt ausgerechnet hoch nach Cimalmotto, vom Dorfbrunnen aus, wo sie uns rauslassen, sind es noch 15 Minuten zu Fuß zu unserer heutigen Unterkunft, dem Refugio La Reggia.

Waldverlust und Katastrophe im Tessin: Ursache und Wirkung

Mit rund 150.000 Hektar Wald ist der Kanton Tessin heute einer der waldreichsten der Schweiz. Doch das war nicht immer so: Gewaltige Unwetter im September 1868 verwüsteten weite Teile der Schweiz, am schlimmsten das Tessin. Überschwemmungen, Erdrutsche und Erosionen forderten hier 55 Menschenleben und verursachten Schäden von 6,5 Millionen Franken. Viele arme Familien verloren alles: Felder, Ernten, Vieh, Vorräte. In Locarno stieg der Seespiegel um fünf Meter und überflutete ganze Häuser. Viele, die noch etwas Geld hatten emigrierten

Grund war der massive, verantwortungslose Raubbau an den Wäldern, letztlich zurückzuführen auf die ungleiche ökonomische Machtverteilung. Schon 30 Jahre zuvor hatten verheerende Hochwasser gewarnt – vergeblich. Die Gier der reichen Waldbesitzer auf der einen, kolossale Armut auf der anderen Seite – und ein schwacher Staat sorgten dafür, dass ganze Waldhänge abgeholzt wurden. Der junge Kanton war zersplittert, politisch instabil und wirtschaftlich ausgeblutet. Der Holzexport – insbesondere in die Lombardei – boomte. Die Gemeinden verkauften ihre Wälder, um Einnahmen zu erzielen oder die Auswanderung zu finanzieren. Vom Staat kam kaum Widerstand, Gesetze wurden ignoriert, erstmals installierte Forstinspektoren hatten keine Macht. Die Regierung verdiente mit, ein Forstgesetz von 1840 trat erst 17 Jahre später in Kraft – und wurde 1863 wieder faktisch abgeschafft.

Die Folgen der „Liberalisierung“ waren dramatisch. Ganze Täler, wie das Maggiatal oder das Val Sambuco, waren um 1860 nahezu waldfrei. Ohne Bewuchs hielten die lockeren Erdschichten den Regenfällen nicht stand. Überschwemmungen, Gerölllawinen und Erosionen verwüsteten fruchtbares Land. Besonders die Jahre 1834, 1868 und 1900 wurden zur Katastrophe. Die Nutzung der Böden nahm ab, viele mussten auswandern – ironischerweise oft mit Geld, das durch den Verkauf der Wälder eingenommen worden war.

Erst 1876 übernahm der Bund die Oberaufsicht über die Bergwälder und begann mit Aufforstungsprogrammen – finanziert von der ganzen Schweiz. Die Wiederaufforstung und der Niedergang der Berglandwirtschaft führten langfristig zur Erholung der Wälder. Doch die Händler hatten ihren Profit längst gemacht – den Preis zahlte die Öffentlichkeit. 

Valle di Campo: Landschaft im Rutschen

Ein Beispiel für die dramatischen Folgen des Raubbaus ist das Valle di Campo, ein Seitental des Vallemaggia. Im 19. Jahrhundert wurde es abgeholzt, das Holz wurde auf der Rovana talwärts  geflößt. Dazu stauten Arbeiter den Bach und leiteten beim Öffnen der Dämme riesige Wassermassen samt Holz ins Tal. 1857 wurden erstmals drei Dämme gleichzeitig gesprengt – mit verheerenden Folgen: Die instabile Moränenterrasse unter dem Ort begann zu rutschen, der Hang verlor durch fehlende Wurzeln seine Stabilität.

Die Rutschungen dauern bis heute an. Die Kirche von Campo ist rund 30 Meter von ihrem ursprünglichen Standort abgewandert, viele Häuser sind sichtbar schief. Um weiteres Abrutschen zu verhindern, wird die Rovana heute unten im Tal durch einen Stollen umgeleitet.

Campo, Cimalmotto, Pian di Campo und Niva bilden heute eine weitgehend entvölkerte politische Gemeinde. Von einst über tausend Bewohnern leben heute nur noch wenige das ganze Jahr über hier. Die prächtigen alten Häuser erinnern an die Rückkehrer, die in der Fremde zu Wohlstand gelangt waren.

Die Geschichte der Situation im Tessin im 19. Jahrhundert wiederholt sich heute in vielen Teilen der Welt. Übermäßiger Reichtum und damit verbundene Macht als Ursachen führen zur Ausbeutung der Lebensgrundlagen und zur Destabilisierung ganzer Regionen und Gesellschaften. 

Ein positiver Neuanfang für die wenig bevölkerten Dörfer hier oben (in manchen der kleinen Orte leben lediglich 5 oder 6 Personen ganzjährig!) ist auch hier die Idee der Bergsteigerdörfer, über die wir schon in Slowenien berichteten. Unsere Übernachtung La Reggia bietet sich zudem als südliche Übernachtungalternative und Übergang anstelle von  Bosco Gurin vom Tessin nach Italien an. Fausto und seine Lebensgefährtin betreiben die sehr schöne Hütte derzeit an 4 Tagen in der Woche, die andere Zeit arbeiten er als LKW Fahrer unten in Locarno, sie als Apothekerin. Ihr Traum ist, hier oben mehr Zeit sein zu können, dazu wollen sie im Winter auch die Schneeschuhsaison nutzen, das gut durch Bäume geschützte Gelände  und die mit Holz zentral geheizte Hütte geben das sicher her, viel Erfolg!

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AutorIn
Günter Bergmann

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