02.08. Vom Rifugio Brusa zum Rifugio Zar Senni

Auch abends speisen wir gut, nach dem Frühstück steigen wir erstmal die paar Höhenmeter nach Rima wieder auf. Wasser ziehen, rein in den Anstieg zum Colle Mud. Eine ursprüngliche Idee, vielleicht als kleinere Gruppe noch den Tagliaferro „mitzunehmen“, scheidet auch wegen des schlechten Wetters aus. Aber auch die zusätzlichen 2000 Höhenmeter üben ehrlicherweise heute, fast am Ende unserer Durchquerung, nicht mehr einen so starken Reiz in mir aus! Es geht also mit Allen gemütlich zunächst die Serpentinen der Mulatteria den Berg hoch, ein paar andere Bergwanderer werden quasi en passant eingefangen. Kurz vor dem Pass beginnt es dann doch noch zu regnen – es reicht den Schirm endlich mal einzusetzen. Mein Vorschlag, im Rifugio Ferioli kurz hinter dem Pass etwas zu essen, findet zunächst keine Begeisterung. Erst als alle vor der leckeren Minestrone sitzen und sich aufwärmen, ändert sich die Stimmungslage.

Der lange Abstieg in das touristische Alagna Valsesia runter geht so einigermaßen flott. Wir müssen quer durch den Ort, um dann gegenüber nochmals 500 Höhenmeter Meter zu unserer Unterkunft Zar Senni zu gelangen.

Die ist in einer kleinen Ansammlung typischer alter Walserhäuser auf dem Hochplateau Otro untergebracht (mehr zu den Walsern siehe unten). Statt der erwarteten Stille treffen wir hier leider auf eine ziemlich ausgelassene, alkoholisierte runde Geburtstagsfeier. Es fällt zunächst etwas schwer, uns damit zu arrangieren. Später können wir uns da lockerer machen, zumal die Partygäste auch ruhiger werden.

Unmittelbar vor dem Walserhaus, in dem wir übernachten, an der kleinen Kirche aus dem Jahre 1659, bereitet eine Gruppe von BürgerInnen eine kleine Ausstellung  vor. Denn morgen – wir sind dann schon wieder unterwegs – ist hier ein großer Tag: vor ziemlich genau 1000 Jahren unterzeichnete der deutsche Kaiser und König Konrad der Salier in Konstanz ein Pergament, mit der er dem Bischof von Novara Pietro Ill zahlreiche Ländereien schenkte. Dazu gehörte unter anderem auch die Alpe di Otro. Mit dieser offiziellen Urkunde des souveränen Staates, in der alle Mächte und Gewalten des Territoriums auftauchen, trat die Region von Valsesia in die Geschichte ein, eingebettet in Vasallenbeziehungen und Konflikte zwischen weltlichem und kirchlichem Feudalismus. Aussen an der Kirche hängt ein eindrucksvoller Christus des Künstlers Edgardo Horak, innen ein „Vater Unser“ in Walser Deutsch.

Ivana, die Hüttenwirtin erkundigt sich nach unserem morgigen Weiterweg. Sie schüttelt bedenklich den Kopf, als ich ihr den kürzeren, direkten Hangweg zum Rifugio Carestia nenne. Sie bringt uns mit ihrem Bruder zusammen. Auch er rät uns – ohne Seil – davon ab. Stattdessen empfiehlt  er uns den AVTV (Alta Via Tullio Vidoni) Höhenweg andersherum zur Rifugio Carestia. Das ist nur leider mindestens zweimal solang wie unsere Planung. Wir entscheiden uns aber für diese sicherere Variante, essen nach dieser Festlegung und Entscheidung erstmal wieder sehr gut bei Ivana.

Für Interessierte:
Die Walser
Auf unserer Wanderung gehörte bereits das Paralleltal zum Lago di Lei, das Avers mit dem Ort Innerferrera, zum legendären Walser Gebiet. Ebenso der Splügenpass, Teile des Tessins, das Pomatt oberhalb von Domodossola und spätestens die Alpi Vercelli von Macugnaga bis zum Valle Vogna sind ebenfalls Walser Gebiete.

Die Walser (rätoromanisch Gualsers) sind eine alemannische Volksgruppe im Alpenraum. Ab dem späten Hochmittelalter wanderten sie vom Oberwallis aus in hochgelegene Gebiete der Alpen, darunter das Bündnerland, Piemont, Aosta Tal, Vorarlberg, Tirol, Liechtenstein und Teile des Berner Oberlands. Heute existieren rund 150 Walser Siedlungen über eine Strecke von etwa 300 km.

Die Walser Wanderungen im 13. und 14. Jahrhundert wurden vermutlich aus Bevölkerungsdruck und auf der Suche nach landwirtschaftlichem Raum ausgelöst. Sie entwickelten als Kolonisten spezielle Bewirtschaftungstechniken für hochalpine Lagen, z. B. mobile Viehwirtschaft mit bis zu 14 Umzügen pro Jahr und Einzelsennereien mit eigenen Käsereien. Hauptprodukt war der Ziger. Für ihre Besiedlung und Arbeit als Kolonisten erhielten die Walser oft Steuerfreiheit und besondere Rechte, wodurch sie sich von der Leibeigenschaft befreien konnten – daher auch der Begriff „Freie Walser“.

Die klimatisch begünstigten Wanderungen führten nach Süden ins Piemont und Aosta Tal, nach Osten ins Bündnerland sowie vereinzelt nach Norden und Westen. Sie besiedelten u. a. das Safiental, das Rheinwald, das Weißtannen Tal sowie Teile Liechtensteins und Tirols.

Charakteristisch für die Walser Architektur ist die Verwendung des durch die Rodung freigewordenen Holzes in geschickten Konstruktionen. In Alagna Valsesia (Piemont) integrieren Häuser Wohnraum, Stall, Speicher und Werkstatt. In Bosco Gurin und Pomatt (Tessin) zeigt sich noch der Einfluss des ursprünglichen Walliser Baustils mit getrennten Gebäuden und einem gemauerten „Feuerhaus“. Gelegentlich werden Ställe als Schutz gegen Lawinen den Wohnhäusern vorgelagert (Bosco Gurin). Im Val Odro schützen bergwärts des Hauses ab der Dachkante schräg in die Erde gebaute Kühlräume, mögliche Schneelawinen fegten so über die Wohngebäude weg.

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AutorIn
Günter Bergmann

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