Um halb sieben steigen wir von der Pietro Crosta ab. An einer Weide mit schönen Gäulen vorbei geht es etwas über 2 Stunden lang abwärts nach Varzo. Der kleine Ort vor dem Simplontunnel hat eine geschichtliche Besonderheit: hier gelang es gut organisierten Partisanen bei Kriegsende durch die vorzeitige Explosion von Sprengstoff die Sprengung des Simplontunnels durch die abrückenden Nazifaschisten zu verhindern (wen das interessiert: Infos dazu gibt’s weiter unten). Varzo ist heute ein einfacher kleiner Ort in diesem engen Tal, alles rauscht hier durch: Autobahn zum Simplonpass, die Bahnstrecke, der Fluss Torrente Diveria. Etwas mühsam finden wir die Querung über und unter allem durch, gelangen schließlich an den Einstieg zum Aufstieg in die gegenüberliegende Talwand.
Wie immer steil steigen wir ein paar hundert Meter vom Fluß auf, bis es etwas kühler wird und der Verkehrslärm zurückbleibt. Unser neues Tal führt nach Westen, später über weichen Waldboden. Vor uns hören wir eine Motorsäge, ein Mann teilt einen Baum in Stücke. Wir warten, bis die Maschine ausgelaufen ist, rufen, um ihn nicht zu erschrecken. Er winkt uns heran. Auffällig ist eine Kinderschar von etwa 15 Kindern bei diesem älteren Mann und seiner Frau in diesem einsamen Weiler. Wir sprechen ihn darauf an und bereitwillig gibt er uns Auskunft. Marco und seine Frau Marie-Luisa waren lange die einzigen praktischen Ärzte in Varzo, jetzt sind sie im Ruhestand. Bereits zum sechsten Mal organisieren sie eine Woche hier oben mit ihren Enkeln und deren Freunden. Offensichtlich mit Erfolg und Spass bei den Kids. Sein Sohn hat in Karlsruhe studiert, freundlich weist uns Marco darauf hin, das es hier weiter oben kein Wasser gibt. Wir tanken bei ihm nochmal auf. Die Kinder wollen alle mit aufs Bild, als wir Marco und seine Frau um ein Foto bitten.
Ein paar Hundert Meter weiter oben treffen wir auf eine Gruppe französischer GTA (Grande Traversata delle Alpi) Geher. Auch wir rasten auf der Wiese der Alpe Wolf, das Besondere hier ist eine Zisterne, die Wasserknappheit auf dieser Seite des Passes scheint wohl Tradition zu haben. Nach unserer etwas längeren Mittagspause holen wir die Franzosen ein und klettern immer weiter zum Passo Variola, kommen vorher noch an einer schönen kleinen Biwakhütte vorbei. Wieder pfeift es kalt, nur kurz bleiben wir an den warmen Stein gelehnt sitzen, essen ein paar Nüsse. Noch ca. 5 Kilometer und 600m Abstieg zum Rifugio Il Dosso – das schaffen wir auch noch! 1835 Meter hoch, 1850 Meter runter und 22,6 Kilometer Strecke liegen dann hinter uns!
Varzo – die vereitelte Sprengung des Simplontunnels
Hatten die Deutschen gehofft, mit den großangelegten Durchkämmungsaktionen im Val d’Ossola im Juni 1944, bei denen ca. 300 Partisanen getötet und ungefähr 400 gefangen genommene Zivilisten in deutsche Lager deportiert worden waren, die Region in ihrem Sinne befriedet zu haben, wurden sie schnell eines anderen belehrt: Aus ihren Rückzugsgebieten heraus formierten sich die Partisanen neu, bekamen weiteren Zulauf und starteten Mitte August 1944 – parallel zur alliierten Landung in Südfrankreich, der Befreiung von Florenz und der Offensive der Alliierten gegen die Gotenlinie – die militärischen Aktionen, die zur Befreiung des Val d’Ossola führen sollten.
Am Bahnhof des an der Simplon Strecke gelegenen Ortes Varzo erinnert eine Gedenktafel daran, dass kurz vor Ende des Krieges in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 Partisanen der 2. Garibaldi-Division die von den Deutschen nach dem „Prinzip der verbrannten Erde“ geplante Sprengung des Simplontunnels vereitelt haben.
Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges wollten die Nazis den damals längsten Tunnel der Welt, den Simplontunnel, sprengen. Ein kommunistischer Partisanenkommandant, ein Schweizer Bähnler, ein katholischer Priester und der schweizerische Geheimdienst verhinderten erfolgreich die Zerstörung.
Werner“Swiss“Schweizer hat dieses Ereignis mit dem Film Dynamit am Simplon (1989) dokumentiert. In Gino Vermicellis Buch Die unsichtbaren Dörfer schreibt er dazu:
„Bereits im November 44 traf in Varzo, dem letzten Dorf vor der italienischen Seite des Simplontunnels, eine Spezialeinheit von deutschen Mineuren ein. Sie begannen, die bereits vorhandenen Sprengkammern im Simplontunnel auszubauen und für die Sprengung vorzubereiten. Auch grosse Elektrizitätswerke und Staumauern wurden miniert. Da die Simplonstrecke bis nach Domodossola unter der Aufsicht der schweizerischen Bundesbahn stand, entdeckten Eisenbahnarbeiter diese Vorbereitungen und meldeten sie dem Zoll Chef von Domodossola, dem Schweizer Peter Bammatter. Dieser war vom Schweizer Geheimdienst für Beobachtungsaufgaben in Norditalien eingesetzt worden. Ein erster Versuch, den Sprengstoffkonvoi durch eine Partisanenaktion bereits am Lago di Mergozzo zu zerstören, misslang.
So blieb es die Aufgabe der „2. Garibaldi-Division“, den Sprengstoff, der inzwischen bis nach Varzo gebracht worden war, unschädlich zu machen. Mit den Brigaden „Camasco“, „Fabbri“ und „Volante Alpina“, insgesamt 120 Mann, riegelte „Mirco“ das Tal vollständig ab, hielt die SS- sowie die österreichischen Wachtruppen in ihren Kasernen fest und liess die 64 Tonnen Trotyl abbrennen. Eine riesige Feuersäule, über 300 Meter hoch, leuchtete bis nach Domodossola, wo der Schweizer Nachrichtenchef Peter Bammatter, in den hell erleuchteten Himmel blickend, von der erfolgreichen Durchführung „seiner“ Aktion Kenntnis nahm.“